Freitag, 7. September 2012

Kein Kanonenfutter

Hört man Jogi Löw in diesen Tagen vor dem Duell gegen die Färöer-Inseln so reden, könnte man meinen, sie existiert nicht. Löw spricht einfach davon, dass der  Fußball-Zwerg aus dem hohen Norden für Poldi und Kollegen schlichtweg  „kein Kanonenfutter“ sei. Und, das war es. Doch, sie existiert: eine kleine deutsch- färöische Fußballtradition.

Etwas eigenartig wirkt sie, fast schon eigenwillig. In etwa so, wie auf den wenigen Kunstrasenfeldern auf der Inselgruppe die Elfmeterregel ausgelegt wird. Dort darf ein dritter Spieler in das Elfmetergeschehen  eingreifen und dem Schützen den Ball festhalten. Warum? Wegen des heftigen Windes, der über die Färöer weht. Deutsch- färöische Fußballtradition? Genau. Eventuell stehen Günter Netzer und Gerd Delling für diese Tradition, als Netzer und Delling einmal über färöische Fußballfinessen plauderten.


Vielleicht steht aber auch der Balkan-Schwabe Fredi Bobic, Europameister 1996, für diese kleine Tradition. So taucht Bobic doch auf einer Gedenkbriefmarke der FIFA auf, die ihn im Zweikampf gegen grätschende färöische Verteidiger zeigt. Seinerzeit, als amtierender Vize-Weltmeister zeigte Teamchef Rudi Völler noch den deutschen Kickern wie sie über die Rasenrechtecke streunen sollen. Richtig, es gibt nur einen Rudi Völler. Wer erinnert sich noch, als Völler solche Partien wie gegen die Färöer mit der mystischen Melodie „es gibt keine Kleinen mehr“ untermalte. Und ließ bei diesen Gelegenheiten gerne die sagenumwobene „Brechstange“ aus der kreativen Kiste holen. Lang, lang ist es her.

Jogi Löw als einer von Völlers Nachfolgern wird nachgesagt, jene Brechstange derart tief in die DFB-Asservatenkammer verbannt zu haben, dass sie kaum einer wiederfinden kann. Hoffentlich gelingt es Jogis Löwen heute Abend gegen die Färöer mit schnellen Spielzügen, raffinierten Rochaden und vielen Toren ein Trauma des letzten deutsch-färöischen Duells aufzuheben, welches ich als Augenzeuge vor zehn Jahren im damaligen Niedersachsenstadion in Hannover erlitten habe. Ein Trauma dank flotter wie fleißiger Färöer und einfallslosem Völler'schen Quer- und Rückpassgeschiebe mit gleichzeitigen Brechstangenelementen. 

Protagonist jenes absurden Abends war ein gewisser Michael Ballack. Wie fast alle Zuschauer an diesem nasskalten Herbstabend erwartete ich ein Schützenfest und schmunzelte, als der Torhüter der Färöer den Rasen mit einer Pudelmütze betrat und durch den Nieselregen hüpfte. Momente nach dem Anpfiff bekam ich dann gleich Mitleid mit den Gästen aus dem hohen Norden. Es gab Strafstoß, doch der aufgezogene Jubel als Ouvertüre eines torreichen Abends brandete merkwürdig schnell ab. Michael Ballack schnappte sich den Ball, klemmte ihn sich unter den Arm und marschierte majestätischen Schrittes in Richtung Tor.

Am Elfmeterpunkt angekommen legte er den Ball in für ihn arttypischer Haltung, das heißt mit grimmigem Blicke und breiter Brust, auf den Elferpunkt. Jene furchteinflößende Aura schien selbst auf den Tribünen des alten Niedersachsenstadions spürbar. Britische Gazetten sollten Ballacks außerordentliche physische Präsenz später einmal als „arrogance“ bewundern. Den Strafstoß versenkte Ballack humorlos im Stile Johan Neeskens in der Mitte des Tores. Der pudelmützige Keeper der Färöer war kurz zuvor ehrfürchtig in die andere Torecke gehechtet. So, als habe er Ballack eine Kartoffel mit der bloßen Hand zerdrücken sehen. Michael Ballack schien in diesem Moment auf der Höhe seiner Zeit. …

Wider den allgemeine Erwartungen, erstarrten die Fußballer von den Färöer-Inseln danach weder in Ehrfurcht noch ergaben sie sich gegen die Herren Vize-Weltmeister in ihr Schicksal. Vielmehr schien die pomadige Völler-Elf schon Mitte der 2. Hälfte regelrecht am Ende, aufgeweicht vom Regen und der Kampfkraft der wackeren und weithin unterschätzten Gäste. Es hatte den Anschein, als hätten sie noch nie von der einstigen färöischen Sensation gegen Österreich im schwedischen Landskrona gehört.


Dies alles gipfelte in einer Schlussphase mit gnadenlosen Pfiffen bei jedem deutschen Ballkontakt und Szenenapplaus für feinste färöische Flachpässe, über fünf Meter versteht sich. Nachdem sich Völlers Elf nach einem Arne Friedrich-Eigentor und einem Kopfballtreffer Miro Kloses zu einer knappen 2:1-Führung gequält hatte, lief kurz vor dem Abpfiff plötzlich ein kleiner blonder färöischer Angreifer allein auf Olli Kahn zu und zielte auf Kahns Kasten. Im Niedersachsenstadion herrschte einen Moment lang kollektiver Schochzustand. Landskrona in Hannover? Diese atemlose Schrecksekunde war erst beendet, als der Ball an den Innenpfosten klatschte...

Die färöischen Fans jubelten und wedelten euphorisch mit ihren  Fahnen. Während der „Titan“ vor Entsetzen fast „kahnsinnig“ wurde, war Ballack völlig untergetaucht. Das tat ich ihm gleich und flüchtete in Richtung Parkplatz. Dort erzählte man sich später, wie die Völler-Elf das 2:1 gerade so über die Zeit gerettet hatte und wie bei der färöischen Ehrenrunde jener Pudelmützenkeeper fahnenschwenkend durch die Gegend gehüpft war. Die Wikinger seien kein Kanonenfutter gewesen, hieß es dann zwischen hupenden Autos. Jogi Löws warnendes Sätzchen kommt mir daher merkwürdig bekannt vor. So, als wenn er damals auch im Stadion gewesen wäre...

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