Freitag, 25. November 2011

Auf nach San Siro!

Es war einmal 2002, die deutsche Nationalelf war als Vize-Weltmeister aus Asien heimgekehrt. Michael Ballack noch nicht als Unvollendeter, sondern als eine Art märtyrerhaft verehrter Held. Wenig später traf jene Nationalelf in der EM-Quali auf die Färöer-Inseln. Wie fast alle Zuschauer an diesem nasskalten Herbstabend in Hannover erhoffte ich mir ein Schützenfest und schmunzelte, wie der Torhüter der Färöer mit Zipfelmütze umher hampelte. Gleich nach einer halben Minute bekam ich Mitleid. Es gab Strafstoß, aber der Jubel als Ouvertüre eines torreichen Abends brandete merkwürdig schnell ab.

Dieser Michael Ballack hatte sich den Ball geschnappt, klemmte sich diesen unter den Arm und begab sich majestätischen Schrittes in Richtung Tor. Dort legte er den Ball in für ihn arttypischer Haltung, das heißt mit entschlossenem Blick, durchgestrecktem Rücken und breiter Brust, auf den Elfmeterpunkt. Diese furchteinflößende, für manche abschreckende, Aura war selbst auf den Tribünen des alten Niedersachsenstadions zu spüren. Niemand hätte gewagt, sich Ballack in den Weg zu stellen.

Es war diese „arrogance“, die britische Zeitungen Jahre später besonders an Ballack rühmten. Das heißt, sie bewunderten vor allem Ballacks außerordentliche physische Präsenz. Den Strafstoß versenkte Ballack übrigens im Stile von Johan Neeskens humorlos in der Mitte des Tores. Michael Ballack schien auf der Höhe seiner Zeit. Der Torhüter mit der Zipfelmütze war Momente vor Ballacks Schuss bereits ehrfürchtig in die linke Torecke gehechtet. Es war, als habe er zuvor Ballack eine Kartoffel mit der bloßen Hand zerdrücken sehen…

Zwischenzeitlich ist Ballacks Abgesang aus der Nationalelf längst erfolgt, und auf seine ganz eigene Weise eine Tragödie. Allmählich scheint jedoch auch jener Tag nicht mehr fern, an dem Ballack endgültig seine Treter an den Nagel wird. Doch wer meinte, Ballack würde sich nach seiner tragischen Talfahrt seinem Karriereende ergeben oder vor diesem gar zu Kreuze kriechen. Nichts da. Wie in alten Zeiten marschiert der Capitano derweil in Leverkusen mit breiter Brust vorneweg und sorgt wieder für ballacktische Momente.

Kürzlich schickte Ballack gar Gedankenspiele über den Äther, nach denen er sich im kommenden Sommer aus  Leverkusen verabschieden werde. Wenn er gesund bleibe, würde er noch ein, zwei Jahre auf einem guten Niveau spielen wollen. Und wenn Rudi Völler ihm einen Fünfjahreskontrakt anböte. Ja, dann würde er selbst den nicht ausschlagen. Unser good old Capitano scheint wie Phoenix aus der Asche zurückgekehrt zu sein.

Bleibt also die Frage, wohin ihn sein finaler Weg führen könnte? Zu Altstar-Liebhaber Felix Magath und seinen Medizinbällen? Ansonsten zurück ins Fußballmutterland? Dorthin, wo einst Stan Matthews selbst im biblischen Alter von 57 kickte und wo Ballack bei Chelsea gute Jahre verbrachte? Oder in die USA? Seite an Seite mit David Beckham bei LA Galaxy oder gar als dessen Nachfolger?

Vielleicht wäre auch der AC Mailand eine gute Partie. Immerhin sind die Rossonieri fast jedes Jahr im Europapokal vertreten. Seit langem zieht Milan alternde Stars magisch nach San Siro. Früher jenen Beckham oder Ronaldinho, heute van Bommel, Ibrahimovic oder Zambrotta. Von Milans Altvorderen wie Ambrosini, Inzaghi, Seedorf oder Gattuso ganz zu schweigen. San Siro, ein schmuckes Sanatorium für Denkmalpflege...

Doch obacht, es gibt einen Haken. Ballack könnte einigen Arrivierten aus Milans Mittelfeld den Rang streitig machen, weshalb ihn nicht aus jeder Kabinenecke ein herzliches „benvenuto“ erreichen könnte.
Etwa von dem verschrobenen Gattuso, der Ballack Hufe scharrend mit brennenden Augen ins Visier nehmen dürfte. Wohingegen dieser rustikale van Bommel seine legendäre „Stinkefaust“ ballen könnte. Nicht zuletzt träfe Ballack dort auf einen gewissen Kevin-Prince Boateng. Wir erinnern uns: englisches Pokalfinale 2010 - beinhartes Tackling Boateng – Ballack verpasste WM in Südafrika.

Ballack und Boateng. Das riecht nach „Schuld und Sühne“, nach einem großen, finalen Drama. Daher, auf nach San Siro! Selbst wenn jene Zeiten längst vorüber sind, in denen Torhüter mit Zipfelmützen vor Ballack in ihre Torecken flüchten.

Freitag, 11. November 2011

Der ewige Mart Poom

Rudi Völler brachte es in seiner Zeit als deutscher Teamchef nicht nur bei seinem Wutausbruch von Reykjavik gegenüber ARD-Mikrofonhalter Waldi Hartmann auf den Punkt. Es gebe keine Kleinen mehr im Fußball, prognostizierte Völler schon lange zuvor. Und der weitsichtige Rudi Völler hat Recht behalten. Denn heute Abend steht im fernen Baltikum Fußball-Zwerg Estland in einer der vier Relegationspartien für die Euro 2012.

Allein schon dank des Erreichens der Relegation gilt 2011 als Wunderjahr des estnischen Fußballs. Immerhin ließ die estnische Equipe in ihrer EM-Qualifikationsgruppe mit Slowenien und Serbien gleich zwei WM-Teilnehmer hinter sich und wurde hinter Italien Gruppenzweiter. Estland ringt nun mit Irland um eines jener vier noch zu vergebenen Euro-Tickets.

Bei den altgedienten keltischen Kickern wie Ex-Tottenham-Striker Robbie Keane, Ex-Chelsea-Star Damien Duff oder Ex-Newcastle-Goalie Shay Given, die allesamt vom ewigen Giovanni Trapattoni gecoacht werden, scheint der grüne Lack zwar ein wenig ab. Dennoch wäre ein Weiterkommen schlichtweg eine Sensation für das kleine Estland, das im Norden und Westen an die Ostsee grenzt, im Osten an Russland und im Süden an Lettland.

Rund 1,3 Millionen Esten werden ihren Helden, den Sinisärgid (Blauhemden), heute Abend sowie am kommenden Dienstag in Dublin die Daumen drücken. Nur knapp 9.700 davon passen im Übrigen in die estnische Nationalarena, sicher sind dies nicht außerordentlich viele. Da aber laut Wikipedia 97 % der Esten einen Fernseher besitzen sollen, dürfte auch der Rest sich das Spiel anschauen können.

Wo wir gerade von Helden sprechen. Die faz befand heute hierzu, dass die estnische Elf „nicht mal einen kleinen“ Star in ihren Reihen habe, vielmehr trügen deren Nationalspieler kuriose Namen wie Alo Bärengrub oder Enar Jääger.

Naja, immerhin kann Estland gleich sieben Kicker vorweisen, die mehr als 100 Länderspiele absolviert haben. Damit liegen die Esten in dieser Rangliste selbst vor den Ex-Weltmeistern Argentinien, Frankreich oder Italien. Der unverwüstliche Martin Reim ist mit 157 Einsätzen Rekordhalter und hat, ohne irgendeine EM oder WM bestritten zu haben, einen gewissen Lothar Matthäus (151 Einsätze) überflügelt.

Ein weiterer dieser glorreichen Sieben ist Estlands Kapitän, der ebenfalls auf einen etwas eigentümlichen Namen hört. Er heißt Raio Piiroja. Piiroja ist mit Anfang 30 bereits fünf Mal estnischer Kicker des Jahres gewesen und steht als Keskkaitsja (estnisch für Verteidiger) in Holland bei Vitesse Arnheim seinen Mann. Und wenn ich schon über diese estnische Extraklasse blogge, kommt ich nicht umhin, auch den ewigen Mart Poom zu erwähnen. Mart Poom? Na? Genau, auch Mart Poom hat weit über 100 Länderspiele auf dem Buckel.

Poom verschlug es als ersten Esten überhaupt ins Mutterland des Fußballs . Dort gelang es Mart Poom sogar sich zu verewigen, indem er einst für den FC Sunderland gegen seinen Ex-Klub Derby mit einem furiosen Kopfballtreffer in letzter Minute den Ausgleich markierte. Als Torwart wohlgemerkt. Dies veranlasste sogar den damals   diensthabenden Radioreporter der ehrwürdigen BBC, seine Hörer Zeugen einer höchstpersönlichen emotionalen Explosion werden zu lassen. Was in etwa so klang : “The best headed equaliser by a goalkeeper against his former club in the last minute. Ever!“


Jahre später entdeckte ihn dann Arsene Wenger, der den ewigen Mart Poom mit Mitte 30 zu Arsenal lotste, jedoch nur sporadisch durch die englischen Strafräume hechten ließ. Sporadisch, da Poom als Nummer drei hinter Jens Lehmann und dessen Rivalen Manuel Almunia auf der Ersatzbank der „Gunners“ die Stellung hielt. 2009 hing Poom, ebenfalls fünfmaliger estnischer Kicker des Jahres,  seine Handschuhe an den berühmten Nagel.

Gewiss wird der estnische Verband für Mart Poom und seine Kumpels aus dem honorigen estnischen Hunderterklub ein exklusives Plätzchen auf der Ehrentribüne in Tallinn reserviert haben, von wo sie sich das Spektakel gegen Irland anschauen können. Doch irgendwie ist es schade, diesen Poom nicht noch einmal auf dem Rasen sehen zu können.

Wie schaut der ewige Trapattoni wohl aus der Wäsche schauen, wenn der ewige Mart Poom in letzter Minute im irischen Strafraum zum Kopfball ansetzen würde...

Samstag, 5. November 2011

„Uns Uwe“ und sein irisches Intermezzo

Uwe Seeler wird 75 Jahre alt: herzlichen Glückwunsch. Allerorten werden Girlanden von Glückwünschen für „Uns Uwe“ aufgehängt und Elogen auf ihn formuliert. In diesen Tagen, in denen selbst Poster von ihm Zeitschriften beiliegen und TV-Sondersendungen ausschließlich ihn thematisieren, frage ich mich oft folgendes. Wie lange ist „Uns Uwe“ eigentlich schon eine Legende? Seit seinem offiziellen Abschiedspiel 1972? Oder noch länger?

Jedenfalls hätte ich ihm im Stadion gerne einmal laut „Uuuuuuuuwe“ zugerufen oder ihn live und in Farbe am Bildschirm erlebt. Nicht als lebende Legende und ewigen Ehrenspielführer, sondern als mitreißenden Mittelstürmer. Zum Beispiel wie er den Engländern einst in Mexiko per Hinterkopfballtor die Tränen in die Augen trieb oder wie er über die Rasenrechtecke wuchtete, rackerte, hechtete und einnetzte.

Der HSV stellte „Uns Uwe“ zu Ehren weiland einen Bronzefuß vor seine Arena im Hamburger Volkspark auf. Die Arena selbst trägt nicht seinen Namen. Schade eigentlich, wenn man sich die kruden Namensschöpfungen der Arena im letzten Jahrzehnt so anschaut. Doch: „Uwe-Seeler-Kampfbahn“ wäre vermutlich des Guten ein wenig zu viel gewesen…

Anders machte es West Ham United im Gedenken an sein schon verstorbenes Idol Bobby Moore. Ein Teil der stolzen Supporter West Hams sitzen auf dem „Bobby Moore Stand“, daneben wird seit einigen Jahren Moores number six nicht mehr vergeben – what an honour. Dazu errichtete West Ham vor seinem Stadion Boleyn Ground eine Statue. Diese zeigt in Anlehnung an das berühmte Bild der Feiern nach dem WM-Finale 1966 wie die beiden West Ham-Ikonen Geoff Hurst, Martin Peters sowie Evertons Ray Wilson Moore auf Händen tragen. Zuvor hatte Moore als englischer Kapitän den WM-Pokal in den Londoner Himmel gereckt.

„Uns Uwe“ hatte übrigens vor dem Finale als deutscher Spielführer mit Moore die Wimpel getauscht und wird seinem HSV dessen bescheidenere Huldigung verzeihen. Weit weniger Verständnis wird Seeler wohl für einen Abstieg seines HSV aufbringen. In diesem Herbst 2011 macht sich der modrige Abstiegsgeruch an der Elbe verdächtig breit. Wie wir wissen: in 49 Jahren Bundesliga war der HSV bisher unsinkbar. Doch sagte man das nicht auch über die Titanic?

Was die Titanic mit Seeler zu tun hat? Erkläre ich gern. Persönlich getroffen habe ich „Uns Uwe“ zwar nie. Doch ein Geheimnis kenne ich von ihm, sozusagen ein offenes. Denn Seelers Vita umrankt die Legende, dem HSV stets treu gewesen zu sein. Nicht einmal ein lukratives Angebot Inter Mailands ließ den Hamburger Jung einst schwach werden. Die Charly Körbels dieser Fußball-Welt lassen grüßen. Allerdings, die weiße HSV-Weste „Uns Uwe“ hat einen kleinen grünen Fleck. Wer in Seelers Biografie „Danke, Fußball!“ einmal Seite 364 aufschlägt, wird große Augen machen. Dort steht geschrieben:

„Am 23. April 1978 war ich ein für einen Tag irischer Profi. Adidas hatte mich gebeten, für Cork Celtic ein Spiel zu bestreiten. Obwohl ich zwei Tore erzielte, verloren wir 2:6 gegen die Shamrock Rovers. Immerhin - mit 39 Jahren noch einmal Profi, ein lustiges Intermezzo.“

Ich gebe zu, nach dieser Passage musste ich das Buch erst einmal beiseite legen. Ob es Zufall war, dass in diesem Moment aus dem Radio der Status Quo-Klassiker „Rock'in all over the world“ dudelte?

Also gut, „Uns Uwe“ hat sich offenbar von den Klängen der irischen Harfen betören lassen. Zu Seelers Ehrenrettung sei gesagt, dass er davon ausgegangen sein soll, in einem Freundschaftsspiel aufzulaufen. Immerhin, mit diesem Wissen können an vielen Theken vermutlich einige Wetten gewonnen werden.

Doch, wie dem auch sei: auf ein Dreivierteljahrhundert „Uns Uwe“ und erst recht auf sein irisches Intermezzo ein zünftiges Guinness.