Sonntag, 2. September 2012

Mitten ins Herz

Die 50. Bundesligasaison geht weiter. Die Themenwoche „50 Jahre Bundesliga - Typen, Titel und bloß nicht wie Tasmania“ endet heute. Im letzten Beitrag der Themenwoche erinnert sich DER LIBERO-Blogger Björn Hoeftmann an das allererste Bundesligator Timo Konietzkas, an unvergessliche Geniestreiche Bernd Schusters und wie es sich anfühlt, für einen Moment lang Fan von Bayer Leverkusen zu werden. Jubeln, Aufspringen und laut Mitgrölen inklusive...

Die gute, alte Bundesliga startete kürzlich in ihre 50. Saison. Anpfiff ihrer historischen Eröffnungsspielzeit war hingegen am 24. August 1963. Schnell  machte sich Borussia Dortmunds Stürmer mit dem Bürstenschnitt Friedhelm Konietzka unsterblich, indem er um Punkt 17 Uhr eine Flanke von Lothar Emmerich unprätentiös über Werder Bremens Torlinie drückte. Das Premierentor der Bundesliga fiel nach nicht einmal 35 Sekunden. Dabei umweht Konietzkas „Geburtsschrei der Bundesliga“ (NDR) damals wie heute eine bedauerliche Tragik.

Wird heute jeder 08/15-Abstauber von Mario Gomez in zigfacher Wiederholung seziert, blieb es an jenem 24. August 1963 einzig jener Kulisse vom 32.000 Zuschauern im Weserstadion vorbehalten, Konietzkas Abstauber in Augenschein zu nehmen. Denn es existieren schlichtweg keine Film- oder Bildaufnahmen seines „unvergänglichen Schnellschusses“ (11 Freunde). Bevor dieser eigenwillige Timo Konietzka im März 2012 von uns ging, hat er einmal gesagt, einziges Erinnerungsstück sei ihm stets der Schuh gewesen, mit dem er jenes Tor erzielt hatte. Jenen Schuh hatte Konietzka sich später vergolden lassen und auf ein Regal in seinem Haus platziert.
Einen Sportschauschauer der 1. Stunde habe ich einmal sagen hören, dass Bernd Schuster sich in seiner Verschrobenheit  nicht großartig von diesem Konietzka unterschieden haben soll. Gewiss, Schuster wirkte in einer anderen Zeit und dabei stets etwas kapriziös.

Nachdem der „Blonde Engel“  Anfang der 90er Jahre seinem spanischen Exil ‹adios› gesagt hatte, lotste Bayer-Manager Calli Calmund Schuster nach Leverkusen. Schuster sollte nach klangvollen Stationen bei Barca, Real und Atletico Madrid unter dem Bayer-Kreuz für etwas mehr Glanz und Gloria sorgen. Denn das nach heutigen Maßstäben hoffenheimeske Image eines Platistikklubs zehrte seinerzeit noch gewaltig an Bayer 04 Leverkusen. Die spätere allseits gefühlte „Menschwerdung“ der Werkself nach der dramatischen Vize-Saison 2001/2002 war noch nicht am Horizont erkennbar und Manager Calmund für jeden schillernden Silberstreif dankbar.  



Lässt man Schusters dreijährige Spielzeit im Dress der Werkself Revue passieren, prägte er als genialer Regisseur anders als mancherorts erwartet keine Epoche eines eleganten Bayer-Spiels, in der die erhoffte Leichtigkeit des Schuster’schen Seins von der Meisterschale geschmückt worden wäre. Gute zwei Dekaden später, bleiben unterm Strich aber immerhin zwei Glanzlichter in Erinnerung, die der schrullige Schuster sagen wir einmal, „hinterlassen“ hat. Anders als Konietzkas ungesehener Abstauber erhielten jene zwei brillanten Treffer Schusters die mediale Aufmerksamkeit, die ihnen gebührte.

Das hat dazu geführt, dass falls irgendwie, irgendwo und irgendwann über schönste Bundesligatreffer gefachsimpelt wird, mir des „Blonden Engels“ Geniestreiche sofort einfallen. Geniestreiche Numero eins ereignete sich kurz nach der WM 1994 gegen Eintracht Frankfurt, als Schuster den weit vor seinem Gehäuse stehenden Andi Köpke per Heber von der Mittellinie überwand - es wurde später zum Tor des Jahres 1994 und gar zum Tor des Jahrzehnts gekürt. Noch heute habe ich habe übrigens  von der „alten Tante“ Sportschau, geschweige denn von Heribert Faßbender, keine Antwort auf meine beiden Postkarten erhalten, die für Schuster votierten…
Eines vorweg: zu Schusters Geniestreich Numero zwo weise ich eine stärkere emotionale Bindung auf. Es muss etwa im Frühling 94 gewesen sein, als der Karlsruher SC vor meinen Augen im Haberland-Stadion in Leverkusen gastierte. Und dieser KSC surfte damals fast eine Saison lang auf der Welle seines epochalen 7:0-Triumphes im UEFA-Pokal über den FC Valencia. Angetrieben in nie mehr erreichte Höhen wurde der KSC von dem wilden Winnie Schäfer, der um sich herum eine Truppe toller Typen getummelt hatte. Die da wären: Keeper Oliver Kahn, Stopper Jens Nowotny, der bärbeißige Ballschlepper Wolfgang Rolff, die Ballverteiler Rainer Schütterle und Manni Bender, der russische Dribbler Sergei Kirjakow oder der buchstäblich kampfstarke Rainer Krieg. Und nicht zuletzt Torjäger Edgar Schmitt, der sich dank seiner vier Treffer beim erwähnten  7:0-Kantersieg irgendwann den Schriftzug „Euro-Eddy“ auf seinen Grabstein gravieren lassen darf.

Der Nachhall der Namen jener KSC-Helden dürfte ältere KSC-Schalträger wohl noch immer wehmütig werden lassen. Damals auf den Tribünen des Haberland-Stadions hatte man aber eher anderes im Sinn. Tatsächlich machte dort der feine KSC-Kalauer die Runde, wonach man annahm, dass der wilde Winnie seinen nicht minder stürmischen Stieren Kahn und Schmitt sicher vor sämtlichen Partien dieser Saison Blut zu trinken gegeben habe, da das Duo nicht seinen gefürchteten Tunnelblick verlöre. Ja, und den letzten Rest aus der Amphore, so die Annahme, würde sich der wilde Winnie selbst kredenzen…
Von solch blutigem badischen Brimborium ließen sich Schuster & Co. aber kaum beeindrucken. Vielmehr errangen Schuster und Kollegen in der rassigen Partie bis wenige Momente vor Schluss eine knappe 2:1-Führung,  bis Schuster zu seinem erwähnten zweiten Geniestreich ansetzte. Bayers Brasilianer Paulo Sergio kam von der linken Außenlinie zum Flanken und erreichte jenen Schuster. Der stand am rechten Strafraumeck gut elf Meter vor Kahns Kasten und katapultierte Sergios Flanke volley per Vollspann ins KSC-Netz. Kahn war völlig chancenlos, sein Kasten schien noch Momente darauf zu wackeln. Es entstand gar der Eindruck, als habe Kahn sich aufgrund der archaischen Gewalt des Schuster’schen Schusses kurz weggeduckt.  

Danach vibrierte das Haberland-Stadion für seine bescheidenen Verhältnisse regelrecht, von allen Seiten brandete ekstatischer Jubel auf. Ich selbst bemerkte schlagartig, wie ich gemeinsam mit den Bayer-Fans aufgesprungen war und euphorisch mitgejubelte. Was war passiert? Eigentlich bin und war ich doch Werder-Daumendrücker. Geht das überhaupt? Urplötzlich Fan von Bayer Leverkusen zu werden? Heute: beinahe zwanzig Jahre später, weiß  ich es besser. Die Erklärung ist simpel. Schusters brillanter Volleyschuss  traf mich genau wie die meisten der 25.000 Zuschauer: und zwar mitten ins Herz. Ich hatte in dieser aufgeladenen Schlussphase einfach einen dieser pulsierenden Momente miterlebt, für die man Fußball schaut und ins Stadion geht.  
Mitten ins Herz! Es dürfte fast vergeblich sein, zu erwähnen, dass sich jene treffende Wirkung selbst bei den kampfstarken KSC-Kickern zeigte. Nur halt, auf der anderen Seite der Medaille. Allen voran Kahn, Schmitt und der wilde Winnie Schäfer senkten ihre Köpfe, brüllten umher und sehnten den Abpfiff förmlich herbei. Kurzum: sie wirkten blutleer. Von dem feinen KSC-Kalauer, der anfangs auf den Tribünen des Haberland-Stadion die Runde gemacht hatte, war da längst keine Rede mehr… 
 

2 Kommentare:

Carsten hat gesagt…

Aus heutiger Sicht wirkt es eher unwirklich, dass Bayer 04 Leverkusen mal Retorte war. Den "Spätgeborenen" wie mir fehlt einfach die Erinnerung an die Zeit, als Bayer noch "neu" und vor allem "neureich" war.

Trainer Baade hat gesagt…

Puh, das finde ich krass, dass Spätgeborene Bayer nicht als Plastik erleben. Das bedeutet ja nur noch stärker, dass die ganzen Werksklubs gar niemals erst überhaupt aufsteigen dürfen. Für alle, die die Welt so kennenlernen, scheint es dann ganz normal zu sein. Was natürlich keinen Angriff auf Carsten darstellt, es wird ihm in seiner Generation sicher nicht alleine so gehen. Aber vermeiden sollte man es.

Kommentar veröffentlichen